DatenschutzDigitale Bildung

Zu viel Überwachung bei Online-Proctoring

Die Corona-Pandemie zwang auch im Bildungsbereich zu einem Umdenken. Das Thema digitale Lehre ist seit März 2020 zunehmend in den Fokus gerückt und wird auch in Zukunft wohl nicht mehr zu seinem früheren Schattendasein zurückkehren. Doch mit der Verlagerung des Lernens und Lehrens in den Online-Bereich geht auch die Digitalisierung der Prüfungen einher, die zahlreiche eigene Herausforderungen mit sich bringt. Die Kontrolle und Überwachung mit Blick auf Betrugsversuche und Ähnliches gestaltet sich dabei nicht ganz einfach. Ein Aspekt, der besonders Datenschützern ein Dorn im Auge ist, betrifft den Umfang der Überwachung bei der digitalen Prüfungsaufsicht.

(Datenschutz-)rechtliche Rahmenbedingungen und verfassungsrechtliche Fallstricke

Sowohl öffentliche als auch private Stellen müssen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten die DSGVO beachten. Im Kontext digitaler Klausuren und der Überwachung der Prüflinge betrifft dies insbesondere Namen, IP-Adressen und andere personenbezogene Informationen. Werden solche Daten verarbeitet, bedarf es dafür grundsätzlich einer Rechtsgrundlage. Nachdem eine Einwilligung gemäß Art. 6 Abs. 1 lit. a) DSGVO regelmäßig ausscheidet – das Merkmal der Freiwilligkeit ist bei der Einwilligung gegenüber öffentlichen Stellen i.d.R. nicht erfüllt (bzw. erfüllbar)[1] und die Möglichkeit des Widerrufs nach Art. 7 Abs. 3 DSGVO würde eine vernünftige Prüfungsvorbereitung gefährden –, bietet eine gesetzliche Grundlage i.S.d. Art. 6 Abs. 1 lit. c), lit. e) DSGVO ein sinnvolleres Vorgehen. Einige Bundesländer haben eine solche bereits geschaffen, z.B. Baden-Württemberg mit § 32a Abs. 2 Satz 3 LHG oder Bayern mit Art. 61 Abs. 10 BayHSchG i.V.m. § 4 der Bayerischen Fernprüfungserprobungsverordnung (BayFEV).

Die Online-Prüfungen müssen dabei die Anforderungen des Art. 5 Abs. 1 lit. a), Art. 12 DSGVO, insbesondere hinsichtlich der Transparenz der Verarbeitungsmodalitäten und -zwecke erfüllen. Aus verfassungsrechtlicher Sicht sind vor allem das Allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG in der Ausprägung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und des Rechts auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme (IT-Grundrecht).[2]

Mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit der Online-Prüfungen ist insbesondere auf eine ausreichende Differenzierung zu achten: Es müssen beispielsweise je nach Prüfungsart und -ort möglichst eingriffsarme Instrumente eingesetzt werden. Im Lichte des Art. 3 Abs. 1 GG ist zu bedenken, dass durch Online-Proctoring häufig ein Niveau der Täuschungsfreiheit angestrebt wird, das in Präsenzprüfungen nicht gewährleistet wird (oder werden kann). Gerade die Aufzeichnung der kompletten Prüfung und deren Speicherung zu Beweiszwecken oder andere Maßnahmen, die übermäßig in die Privatsphäre eingreifen, könnten (bzw. dürften) in dieser oder einer vergleichbaren Form in Präsenzprüfungen nicht umgesetzt werden.

Online-Proctoring geht zu weit

Der baden-württembergische Landesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit Stefan Brink hat vor Kurzem eine Handreichung[3] für Hochschulen veröffentlicht, die eine deutliche Ansage enthält: Gerade vor dem Hintergrund der Pandemie sähen sich Studierende oft gezwungen, die Eingriffe hinzunehmen, um ihren Abschluss nicht zu verzögern. [4] Bei allem Verständnis für die Bemühungen der Hochschulen um faire und einheitliche Prüfungssituationen würden trotz klarer Vorgaben des novellierten Landes-Hochschulgesetzes zahlreiche Online-Prüfungen hinter den gesetzlichen Anforderungen insbesondere mit Blick auf den Datenschutz zurückbleiben. Insbesondere seien Aufzeichnungen und Screenshots, eine Raumüberwachung oder das Tracking von Augen- oder Kopfbewegungen nach dem LHG eindeutig verboten, ebenso wie die Einsicht in „Schmierzettel“ und Entwürfe, die den Denkprozess abbilden.[5]

Die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) stellt in einem kürzlich veröffentlichten Gutachten fest, dass Online-Proctoring in vielen Fällen weit über den als Maßstab herangezogenen Rahmen des § 4 Abs. 4 BayFEV hinausgeht.[6] Nach einer umfassenden Analyse der weit verbreiteten Software der Firma Proctorio kommt das Gutachten zu dem Schluss, dass es unwahrscheinlich ist, dass eine Proctoring-Software überhaupt in der Lage ist, die gesetzlichen Anforderungen zu erfüllen.[7] Doch unabhängig von den technischen Voraussetzungen werden die tatsächlich gebotenen Möglichkeiten in der Praxis für unzulässige Überwachungsmaßnahmen verwendet. Ein klassisches Beispiel ist die Aufforderung, vor Beginn der Prüfung den gesamten Raum, in dem die Prüfung abgelegt wird, zu filmen. Der 360°-Kameraschwenk bietet dabei häufig Einblick in sensible Bereiche der Privat- und Intimsphäre, etwa wenn der Schreibtisch im Schlafzimmer steht.[8] Die GFF plant strategische Klagen gegen unverhältnismäßige Online-Prüfungsaufsichtsmaßnahmen und ruft betroffene Studierende, die gegen die Praxis an ihrer Universität klagen möchten, dazu auf, Kontakt aufzunehmen.

Fernprüfungen ja, aber bitte verfassungskonform und datenschutzfreundlich

Die Möglichkeit, Prüfungen online abzulegen, sollte auch künftig als unverzichtbare Ergänzung zu Präsenzprüfungen beibehalten werden. Der Datenschutz darf hierbei jedoch nicht unter den Tisch fallen. Gerade bei Hochschulprüfungen sollten Prüfungskonzepte erarbeitet werden, die den Fokus mehr auf Verständnis als auf das Auswendiglernen der Vorlesungsmaterialien legen. So könnte nicht nur auf besonders aggressive Überwachungsmethoden verzichtet werden, sondern auch der eigentliche Zweck der jeweiligen Lehrveranstaltung – ein wirkliches Verständnis des Stoffes und die Fähigkeit, das Gelernte souverän anzuwenden – gefördert werden. Soweit eine intensive Beaufsichtigung im Einzelfall nötig ist, muss der Einsatz der Software an die geltenden gesetzlichen Rahmenbedingungen angepasst werden. Überschießende Maßnahmen wie die dauerhafte Speicherung von Aufzeichnungen oder Tracking-Systeme gehen dabei eindeutig zu weit.


[1] Vgl. ErwGr. 43 Satz 1 DSGVO.

[2] Vgl. Heckmann/Scheurer, in: Heckmann/Paschke, jurisPK-Internetrecht, 7. Aufl. 2021, Kap. 9 Rn. 1006 ff.

[3] LfDI BW, Handreichung zu online-Prüfungen an Hochschulen, 15.07.2021.

[4] Vgl. LfDI BW, Pressemitteilung vom 17.07.2021, dort auch zum Folgenden.

[5] Vgl. LfDI BW, Handreichung zu online-Prüfungen an Hochschulen, 15.07.2021, S. 3f.

[6] Vgl. GFF, Spähsoftware gegen Studierende. Online-Proctoring als Gefahr für die IT-Sicherheit und den Datenschutz, 14.07.2021, S. 4.

[7] Vgl. GFF, Spähsoftware gegen Studierende. Online-Proctoring als Gefahr für die IT-Sicherheit und den Datenschutz, 14.07.2021, S. 23.

[8] Vgl. Jessier, Überwachung von Online-Prüfungen, Freiheitsrechte.org, 14.07.2021 sowie Reuter, Online-Prüfungsüberwachung verletzt Datenschutz und IT-Sicherheit, Netzpolitik.org, 14.07.2021, dort auch zum Folgenden.

Sämtliche Links wurden zuletzt am 21.07.2021 abgerufen.