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Informatik als Pflichtfach, muss das sein?

Digitalisierung ist eines der großen Themen unserer Zeit. Fast jeder Aspekt des alltäglichen Lebens findet immerhin zu einem bestimmten Grad und in einem gewissen Umfang online statt. Immer wichtiger werden daher auch die Fähigkeiten, um in der digitalen Welt sicher navigieren zu können. Doch digitale Kompetenzen sind keine bloße Spielerei, sie sind mehr als nur eine nützliche Freizeitaktivität. Zumindest Grundkenntnisse sind unerlässliche Werkzeuge in der digitalisierten Arbeitswelt, ganz zu schweigen von spezialisierten IT-Berufen, ob mit oder ohne Studium.

Die kurze Antwort auf die im Titel aufgeworfene Frage ist daher eindeutig „Ja“.

Informatik als Pflichtfach

Diese Ansicht teilt auch das Gros der Bevölkerung: Ganze 71 Prozent der Menschen in Deutschland erwarten einer Bitkom-Umfrage zufolge von der nächsten Bundesregierung, dass Informatik als Pflichtfach an allen weiterführenden Schulen ab der fünften Klasse eingeführt wird, auch ein gesetzlich garantiertes Recht auf digitale Bildung soll nach Ansicht der Befragten etabliert werden.[1] Letzteres wurde insbesondere im Zusammenhang mit den pandemiebedingten Schulschließungen und den Herausforderungen beim digitalen Unterricht schon im Januar gefordert.[2] Die Bildungspolitik sei in Sachen Digitalisierung altbacken, zu wenig ambitioniert und, in einem Wort, enttäuschend. Bitkom-Präsident Achim Berg bringt es auf den Punkt: „Wenn Deutschland ein digitaler Spitzen-Standort werden will, brauchen die Beschäftigten von morgen dafür die notwendigen Fähigkeiten – und Informatik bildet dafür die Basis“.[3] Bildung ist allerdings Ländersache, weswegen die Befragten mit deutlicher Mehrheit eine Kompetenzerweiterung zugunsten des Bundes befürworten. Die föderale Struktur wird als einer der Gründe dafür gesehen, dass die Digitalisierung der Schulen – auch in Bezug auf Informatikunterricht – so schleppend vorangeht.

Die International Computer and Information Literacy Study (ICILS) bescheinigte deutschen Schülerinnen und Schülern 2018 erneut ein allenfalls mittelmäßiges Kompetenzniveau im internationalen Vergleich.[4] So verfügte ein Drittel der AchtklässlerInnen nur über Grundkenntnisse – „Emails öffnen, Links anklicken oder ein Wort in einen Text einfügen“ – und blieb damit gerade einmal Durchschnitt.[5] Im Gegensatz dazu konnte sich Dänemark seit der ersten Studie 2013 aus dem Mittelfeld an die Spitze des Rankings vorarbeiten. Auch Südkorea, Finnland und die Region Moskau schnitten weit überdurchschnittlich ab.

Das Ergebnis der Bitkom-Umfrage ist jedenfalls ein deutliches Signal an die Politik, sowohl vor dem Hintergrund der bevorstehenden Bundestagswahl als auch an die Kultusministerien der Länder. Die Forderung selbst ist freilich nicht neu.[6]

Unterschiedliches Tempo in den Bundesländern

Die saarländische Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot (SPD) fand in dieser Sache im Rahmen des 2. Tages der digitalen Bildung im Saarland klare Worte, denen auch bald Taten folgen sollen.[7] Der Umgang mit digitaler Technik und digitalen Medien gehöre ganz selbstverständlich zur Lebensrealität – und diese müsse auch in den Schulen abgebildet werden. Kinder und Jugendliche müssten Kenntnisse und Fähigkeiten im Bereich der Informatik und digitale Medienkompetenz erwerben, Informatik müsse Allgemeinbildung werden. Deshalb soll Informatik als eigenständiges Schulfach ab der siebten Klasse an Gemeinschaftsschulen und Gymnasien zum Pflichtfach werden. Der Bedarf an entsprechend qualifizierten Lehrkräften soll sukzessive über Aus- und Weiterbildungen gedeckt werden. Um Informatik für Lehramtstudierende attraktiver zu gestalten, ist künftig die Kombination mit verschiedenen Fächern möglich (anstatt nur mit Mathematik wie bisher). Ein detailliertes Konzept, unter anderem hinsichtlich der Lehrplaninhalte, muss noch erarbeitet werden.

In Bayern ist Informatik bereits seit 2003 ein verpflichtendes Unterrichtsfach an Gymnasien.[8] Mit dem „Masterplan ‚BAYERN DIGITAL II‘“ und den „digitalen Klassenzimmern“ wurde 2018 ein umfangreiches Konzept für den digitalen Unterricht nachgelegt, der neben einer eigenen Online-Plattform für digital gestützten Unterricht und inhaltlichen Programmpunkten auch Fördermittel und eine Fortbildungsoffensive vorsieht.[9]

Ab der fünften Klasse wird Informatik in Bayern als eigenständiges Fach unterrichtet, in Sachsen von der siebten bis zur zehnten Klasse, in Mecklenburg-Vorpommern sieht ein Rahmenlehrplan Informatik und Medienbildung durchgängig von der fünften bis zur zehnten Klasse vor; Baden-Württemberg startete 2017/2018 den „Aufbaukurs Informatik“ in der siebten Klasse.[10] Andere Bundesländer – wie auch das Saarland – schließen sich zunehmend an. Schleswig-Holstein plant die Einführung des Pflichtfachs ab 2022/2023.[11] Nordrhein-Westfalen führt das Fach ab diesem Herbst ein.[12]

Lehr- und Fachkräfte sind knapp

Verena Wolf bildet als Professorin für Informatik an der Universität des Saarlandes zukünftige Lehrerinnen und Lehrer aus.[13] Sie begrüßt die Pläne des saarländischen Bildungsministeriums. Digitale Mündigkeit, Datensouveränität und kritisches Urteilsvermögen seien unabdingbare Schlüsselqualifikationen. Kinder und Jugendliche könnten digitale Produkte und Technologien zwar für ihre Zwecke nutzen, doch es fehle an der Vermittlung der Grundprinzipien: „Was ist ein Algorithmus, was ist ein lernendes System, also eine künstliche Intelligenz, wie funktioniert eigentlich das Internet?“ Als Lehrstuhlinhaberin wünscht sie sich deutlich mehr Bewerberinnen und Bewerber. Die Übergangsphase müsse für Weiterbildungen intensiv genutzt werden. Der Zeitplan – ab 2023 soll das Pflichtfach Informatik eingeführt werden – sei zwar ambitioniert, doch allein schon die Ankündigung des Ministeriums setze ein wichtiges Zeichen an Schulleitungen und Lehrkräfte.

Der Lehrkräftemangel ist dabei eine ernstzunehmende Herausforderung, nicht nur, aber insbesondere im Bereich der Informatik. In Rheinland-Pfalz haben im Jahr 2020 nur 17 der rund 1.200 Lehramtsabsolventinnen und -absolventen das Fach belegt.[14] Seit Jahren sinkt die Anzahl der Informatiklehrkräfte: Nur 680 rheinland-pfälzische Lehrerinnen und Lehrer an allgemeinbildenden Schulen hatten 2020 eine Lehrerlaubnis für Informatik, der niedrigste Wert seit 2010 und ein Rückgang um fast sieben Prozent seit 2010. Der Mangel an Informatiklehrkräften an weiterführenden Schulen zieht sich durch sämtliche Bundesländer.[15] Fast alle Länder suchen einer Übersicht des Handelsblatts zufolge händeringend nach Quereinsteigern.[16]

Nicht nur aus gesellschaftspolitischer Sicht sind die mauen digitalen Kompetenzen deutscher Schülerinnen und Schüler besorgniserregend und unter anderem in Bezug auf eine umsichtige Einordnung von Informationen im Internet ein idealer Nährboden für Fake News und Verschwörungstheorien.[17] Auch mit Blick auf die Chancengleichheit muss dafür gesorgt werden, dass gerade die Schulen die notwendigen Fähigkeiten und Fertigkeiten vermitteln. Mit dem 2019 verabschiedeten „Digitalpakt Schule“ wurden fünf Milliarden Euro in die Digitalisierung der Bildungsstätten gepumpt, die Meinungen zu seiner Effizienz sind gemischt.[18] Coronabedingt wurden weitere zwei Milliarden Euro freigegeben, die Präsidentin der Kultusministerkonferenz Britta Ernst hat sich erst kürzlich für eine Verlängerung und Intensivierung des Programms in der kommenden Legislaturperiode ausgesprochen, solle ein ähnlichen Stand bei der Digitalisierung erreichen werden wie ihn die Vorzeigeländer Dänemark oder Estland vorweisen können.[19]

Fazit

2013 rechtfertigte Peter Albrecht, Sprecher der Hamburger Bildungsbehörde noch das Ende von Informatik als Pflichtfach an Stadtteilschulen mit folgenden Worten: „Alle sollten in einer mobilen Gesellschaft ein Auto fahren können. Aber nicht alle müssen auch wissen, wie es im Detail funktioniert oder gebaut wird“.[20] Für eine Automobilnation wie Deutschland ein Armutsbekenntnis, und ebenso für eine zukünftige IT-Nation.

Fehlende Lehrkräfte, wenig kompetente Schüler und Fachkräftemangel bilden einen Teufelskreis, aus dem es auszubrechen gilt. Das internationale Image Deutschlands als Ingenieurland droht andernfalls mangels Nachwuchses zu versickern. Die Herausforderungen und Chancen des 21. Jahrhunderts sind zu einem maßgeblichen Teil digital. Dass vor diesem Hintergrund teilweise ernsthaft noch bezweifelt wird, ob Informatikkenntnisse tatsächlich nötig sind, ist eigentlich absurd. Deutschland soll, das will (überwiegend) auch die Politik, ein global gefragter IT-Standort, ein Digitalisierungsmekka werden. Doch schon jetzt orientieren sich hervorragend ausgebildete Absolventen und innovative Unternehmen aus diversen Gründen eher nach Silicon Valley und Co. IT-affinere Staaten bauen derweil ihren Vorsprung aus, auch, weil dort nicht mehr über das „ob“ diskutiert, sondern das „wie“ tatkräftig angepackt wird.

Es bleibt zu hoffen, dass die unter anderem im Digitalpakt gesteckten Ziele erreicht werden können und dass deutsche Schülerinnen und Schüler in der nächsten ICILS-Studie 2023 – deutlich! – besser abschneiden werden. Die Verantwortung dafür liegt indes nicht in ihren Händen.


[1] Vgl. Bitkom, Drei Viertel der Bevölkerung fordern Informatik als Schul-Pflichtfach, 30.08.2021.

[2] Vgl. Bitkom, Bitkom fordert Recht auf digitale Bildung, 05.01.2021, dort auch zum Folgenden.

[3] Vgl. Bitkom, Drei Viertel der Bevölkerung fordern Informatik als Schul-Pflichtfach, 30.08.2021, dort auch zum Folgenden.

[4] Vgl. Fraillon e.al., Preparing for Life in a Digital World. IEA International Computer and Information Literacy Study 2018 International Report.

[5] Vgl. Gillmann, ICILS-Studie: Digitale Fähigkeiten deutscher Schüler sind nur mittelmäßig, Handelsblatt.de, 05.11.2019, dort auch zum Folgenden.

[6] Vgl. z.B. Neuerer, CSU-Staatsministerin Bär fordert „Digitalkunde“ als Pflichtfach ab der Grundschule, Handelsblatt.de, 23.02.2019; N.N., Anonymes Lehrergeständnis. Informatik als Pflichtfach – unbedingt!, Spiegel Online, 05.11.2019; Pflichtfach Programmieren: Laut Umfrage will Mehrheit der Deutschen „Coding“ im Schulunterricht, News4Teachers.de, 17.10.2016; Götzke, Informatik als Pflichtfach: „Siebte Klasse spätestens“, Deutschlandfunk.de, 23.06.2014; Bornemann/Müller, Pflichtfach Informatik: Kieler Landtag stimmt gegen Piraten-Antrag, SHZ.de, 10.06.2016;

[7] Vgl. die Pressemitteilung des saarländischen Bildungsministeriums vom 30.06.2021, dort auch zum Folgenden.

[8] Vgl. Tsakiridou, Bayern glänzt mit neuem Schulpflichtfach Informatik, Deutschlandfunk.de, 12.05.2003.

[9] Vgl. die Pressemitteilung des bayerischen Kultusministeriums Nr. 092 vom 19.06.2018.

[10] Vgl. Bergner, Pflichtfach Informatik: Die Grundlagen der digitalen Welt verstehen, Tagesspiegel Background, 25.08.2020.

[11] Vgl. Informatik wird Pflichtfach im Norden, SZ.de, 11.05.2021.

[12] Vgl. Bergner, Pflichtfach Informatik: Die Grundlagen der digitalen Welt verstehen, Tagesspiegel Background, 25.08.2020.

[13] Vgl. SR aktueller bericht vom 02.07.2021, dort auch zum Folgenden.

[14] Vgl. Immer weniger Lehrkräfte mit dem Fach Informatik, SZ.de, 12.07.2021, dort auch zum Folgenden.

[15] Vgl. u.a. Informatik wird Pflichtfach im Norden, SZ.de, 11.05.2021

[16] Vgl. Obmann, Wollen Sie Lehrer werden? Für diese Fächer suchen die Bundesländer Quereinsteiger, Handelsblatt.de, 14.04.2021, dort auch zum Folgenden.

[17] Vgl. Gillmann, ICILS-Studie: Digitale Fähigkeiten deutscher Schüler sind nur mittelmäßig, Handelsblatt.de, 05.11.2019, dort auch zum Folgenden.

[18] Vgl. Schmoll, Nur wenig Geld aus Digitalpakt für Schulen ausgezahlt, FAZ.net, 19.02.2021.

[19] Vgl. KMK-Präsidentin für Fortsetzung von Digitalpakt Schule, Zeit Online, 30.08.2021.

[20] Vgl. N.N., Anonymes Lehrergeständnis. Informatik als Pflichtfach – unbedingt!, Spiegel Online, 05.11.2019.

Sämtliche Links wurden zuletzt am 31.08.2021 abgerufen.