Allgemein

70 Jahre Bundesverfassungsgericht

Das höchste deutsche Gericht feierte in dieser Woche das Jubiläum seiner festlichen Eröffnung am 28. September 1951, zu der sowohl Bundespräsident Theodor Heuss als auch Bundeskanzler Konrad Adenauer anwesend waren.[1] Die allererste Entscheidung in der Geschichte des BVerfG war eine einstweilige Anordnung vom 9. September 1951 im Zusammenhang mit der Volksabstimmung zur Neugliederung der Länder Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern.[2] In den folgenden 70 Jahren haben die Karlsruher Richterinnen und Richter mit zahlreichen wegweisenden Grundsatzentscheidungen unser Leben bis heute geprägt.

Widerstand gegen Sonderstellung

Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts als vom Justizministerium unabhängige Institution war dabei anfangs äußerst umstritten.[3] Ein entsprechendes Vorbild gab es nicht, und die Sorge vor einer „Politisierung der Justiz“[4] sowie die Aussicht, das Grundgesetz werde so gelten, wie das Bundesverfassungsgericht es auslege[5], stieß nicht nur auf Zustimmung. In der Bundesregierung unter Adenauer wurde die Einrichtung des BVerfG als Verfassungsorgan mit eigenem Haushalt als gewöhnungsbedürftiges Zugeständnis gesehen.[6]

Der Beitrag des BVerfG zur Verfassungsordnung in der Bundesrepublik und seine Bedeutung für die rechtliche und politische Landschaft wurde in der an „die obersten Bundesorgane“ gerichteten informalen Status-Denkschrift vom 27. Juni 1952[7] hervorgehoben – verbunden mit einer selbstbewussten Forderung nach dem Status eines Verfassungsorgans.[8] Die Tatsache, dass es vor dem BVerfG um „‘politische‘ Rechtsstreitigkeiten“ geht, wurde als Argument für die Unterscheidung von der übrigen Gerichtsbarkeit und die Ebenbürtigkeit mit Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung angeführt.[9] Thomas Dehler, damals Bundesjustizminister und einer der schärfsten Kritiker in der Statusfrage, warnte 1952 vor einer „Überregierung mit gesetzgebender Gewalt“.[10] Wenn auch die Verfassungsorganqualität des BVerfG inzwischen nicht mehr in Frage gestellt wird, so wird doch die Status-Denkschrift rückblickend als „verfassungsrechtlich übergriffig“ bewertet.[11] Und auch heute gibt die Stellung des BVerfG Anlass für Diskussionen, wenn auch aus anderer Richtung: Das Verhältnis zum Europäischen Gerichtshof sorgt für Spannungen hinsichtlich des Rangs des BVerfG als Hüter der deutschen Verfassung.[12]

Als Symbol der hart erkämpften Sonderstellung des BVerfG dienen auch die kardinalroten Roben:[13] Farbe, Schnitt und Form wurden von den Richterinnen und Richtern in einem mehrere Jahre dauernden Prozess mit zahlreichen Entwürfen selbst festgelegt – das Ergebnis ist ein Statement Piece der ganz besonderen Art, das nicht einfach gekauft oder neu angefertigt werden kann. Vielmehr werden die Roben, die im Eigentum des Vereins der Richter des BVerfG stehen, „vererbt“ und lediglich bei Bedarf angepasst und ausgebessert. Zuständig dafür ist seit mehr als 20 Jahren die Karlsruher Schneidermeisterin Kerstin Brandt.[14] Beim Anlegen der opulenten Robe sind die Richterinnen und Richter auf die Hilfe eines Justizbeamten angewiesen. Die bezweckte Signalwirkung wird nicht verfehlt, die repräsentative Stellung des Bundesverfassungsgerichts wird dem Volk durch die auffälligen Roben auch bildhaft eingeprägt.[15]

Grundsatzentscheidungen – auch für das IT-Recht

Fast eine Viertelmillion Verfahren sind zwischen 1951 und Ende 2020 beim BVerfG eingegangen, die meisten davon betrafen Verfassungsbeschwerden.[16] Auch im weiten Themenfeld des IT-Rechts trug das Gericht maßgeblich zum heutigen Verständnis des grundrechtlichen Gefüges, unter anderem in Bezug auf den Schutz personenbezogener Daten, bei.

Das Volkszählungsurteil von 1983 etwa darf als einer der wichtigsten Meilensteine des Datenschutzrechts gesehen werden. Das Verfahren betraf eine Verfassungsbeschwerde gegen das Volkszählungsgesetz 1983, welches eine umfassende Datenerhebung, unter anderem hinsichtlich Angaben zur Wohnsituation, Erwerbstätigkeit, Beruf und Ausbildung sowie zu Familie und Lebenspartnerschaft vorsah.[17] Das BVerfG stellte fest, dass eine derartige unbeherrschte Datensammlung – die auch unter dem Gesichtspunkt der Nutzung moderner Informationstechnik betrachtet wurde – die freiheitliche Grundordnung gefährde und so in grundrechtlich geschützte Positionen der Bürgerinnen und Bürger eingreife. Die Möglichkeit, Einzelangaben technisch gesehen unbegrenzt speichern und jederzeit ohne Rücksicht auf Entfernungen in Sekundenschnelle abzurufen verstoße gegen das – in diesem Kontext aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) hergeleitete – Recht auf informationelle Selbstbestimmung:[18] „Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen [und] möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte (Art 8, 9 GG) verzichten. Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist.“[19] Die im Volkszählungsurteil getroffenen Feststellungen wirken bis heute fort, was teilweise mit Blick auf die technische Weiterentwicklung und neue Gefährdungslagen auf Kritik stößt.[20]

Im Rahmen einer Entscheidung zur Online-Durchsuchung[21] nach dem nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzgesetz schuf das BVerfG ein weiteres neues „Schwestergrundrecht“ zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das ebenfalls aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht hergeleitet wird[22]: Das Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme („IT-Grundrecht“), das besonders in Bezug auf präventive und repressive Ermittlungsmaßnahmen relevant ist: „Die heimliche Infiltration eines informationstechnischen Systems, mittels derer die Nutzung des Systems überwacht und seine Speichermedien ausgelesen werden können, ist verfassungsrechtlich nur zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut bestehen. Überragend wichtig sind Leib, Leben und Freiheit der Person oder solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen oder den Bestand des Staates oder die Grundlagen der Existenz der Menschen berührt.“[23]

Auf die Zukunft

Die Entscheidungen des BVerfG werden sicherlich auch in Zukunft bedeutende Auswirkungen entfalten und das Gericht als „wesentlicher Erfolgsfaktor der grundgesetzlichen Ordnung“ erhalten bleiben.[24] Nicht immer stoßen die Ansichten der Karlsruher Richterinnen und Richter ausschließlich auf Zustimmung und in manchen Fällen bleibt der vorgesehene Einfluss auf politischer – und insbesondere gesetzgeberischer – Ebene aus. Insgesamt dürfte jedoch Einigkeit darüber bestehen, dass das BVerfG seinen Status verdient und seine Aufgaben im Verfassungsgefüge nach bestem Wissen und Gewissen ausführt – allein dafür verdient es ein herzliches „Happy Birthday!“.


[1] Vgl. BVerfG, Pressemitteilung vom 28.09.2021.

[2] BVerfG, Beschl. v. 09.09.1951 – 2 BvQ 1/51 – BVerfGE 1, 1.

[3] Vgl. Chatziathanasiou, RW 2020, 145, 148.

[4] Schmitt, AöR 55 (N.F. 16) 1929, 161, 173.

[5] Smend, in: Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 1994, S. 582.

[6] Vgl. Chatziathanasiou, RW 2020, 145, 150.

[7] BVerfG, JöR 6/1957, S. 144.

[8] Vgl. Chatziathanasiou, RW 2020, 145.

[9] Vgl. Chatziathanasiou, RW 2020, 145, 154 m.w.N.

[10] Vgl. Reuter, Karlsruhe wird’s richten, Netzpolitik.org, 28.09.2021.

[11] Vgl. Chatziathanasiou, RW 2020, 145, 160 f.

[12] Vgl. Reuter, Karlsruhe wird’s richten, Netzpolitik.org, 28.09.2021.

[13] Hierzu und zum Folgenden: Felz, Leuchtend rot, LTO.de, 27.09.2021.

[14] Vgl. Bräutigam/Kornmeier, Die letzte Instanz, Tagesschau.de, 28.09.2021.

[15] Vgl. Leibholz, JöR 6/1957, 110.

[16] Vgl. Schneider, Das Gericht mit Gewicht wird 70, ZDF.de, 28.09.2021.

[17] BVerfG, Urt. v. 15.12.1983 – 1 BvR 209/83 u.a. – BVerfGE 65, 1 – Volkszählung.

[18] BVerfG, Urt. v. 15.12.1983 – 1 BvR 209/83 u.a. – BVerfGE 65, 1 – Volkszählung – juris Rn. 147 ff.

[19] BVerfG, Urt. v. 15.12.1983 – 1 BvR 209/83 u.a. – BVerfGE 65, 1 – Volkszählung – juris Rn. 148.

[20] Siehe Ladeur, DÖV 2009, 45.

[21] BVerfG, Urt. v. 27.02.2008 – 1 BvR 370/07, 1 BvR 595/07 – BVerfGE 120, 274 – Online-Durchsuchung.

[22] Vgl. Heckmann/Scheurer, in: Heckmann/Paschke, jurisPK-Internetrecht, 7. Aufl., Kap. 9 (Stand: 06.07.2021), Rn. 27, Rn. 1007 ff.

[23] BVerfG, Urt. v. 27.02.2008 – 1 BvR 370/07, 1 BvR 595/07 – BVerfGE 120, 274 – Online-Durchsuchung – juris Ls. 2.

[24] Chatziathanasiou, RW 2020, 145, 148.

Sämtliche Links wurden zuletzt am 30.09.2021 abgerufen.